Mist, jetzt müssen die Verkehrs­regeln schon revidiert werden

Eine Strasse in Genf während der Hundertjahrfeier im Jahr 1914. Foto Louis Huguenin

Im Jahr 1914 revidieren die Kantone die Strassenverkehrsregeln, die sie gerade mal zehn Jahre zuvor erarbeitet haben. Die Vorschriften werden strenger und der Führerausweis wird zur Pflicht. Ziel ist es, die Bevölkerung vor Unfällen zu schützen … und vor herumfliegendem Kot!

Kaum zehn Jahre, nachdem sich die Kantone auf grundlegende Verkehrsregeln in der Schweiz geeinigt haben, stellen sie fest, dass dieser eher rudimentäre Text bereits an seine Grenzen stösst und nicht mehr den neuen Gegebenheiten entspricht. Unsitten und gefährliches Verhalten auf der Strasse nehmen zu. Grund dafür ist das Automobil, das sich Anfang des 20. Jahrhunderts rasch verbreitet. So verwirklichen sich zahlreiche Kleinbürger dank der guten Geschäfte während der Belle Époque, wie die Zeit des wirtschaftlichen Wohlstands vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg genannt wird, ihren Traum auf vier Rädern. Die Zahl der Automobile in der Schweiz steigt zwischen 1910 und 1914 von 2276 auf 5400.

Dieses rasante Wachstum ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Fahrzeuge erschwinglicher werden, wie beispielsweise das Modell T von Ford aus dem Jahre 1908, das als erstes Auto in Serie vom Fliessband läuft.

Obwohl «Tin Lizzie» oder die «Blechliesel» – wie Fords Modell T auch genannt wird – viel kostengünstiger ist als die luxuriösen Hispano-Suizas oder Panhards, bleibt sie für die meisten Arbeiter ausserhalb ihrer Möglichkeiten. Zwar verdient man in der Textilindustrie 1913 deutlich mehr als noch 1875, sprich 3.90 Franken gegenüber 2.20 Franken pro Tag, dennoch sind die Männer auf das Einkommen der Frau und der Kinder angewiesen, um über die Runden zu kommen. Immer häufiger fordern diese In-der-Belle-Époque-Hängengebliebenen ihren Anteil am Kuchen, indem sie ihre Arbeit niederlegen. Im Jahr 1907 bringen insgesamt 276 Streiks die verschiedenen Regionen hierzulande zum Stillstand. Der Höhepunkt dieser Unzufriedenheit unter den Arbeitern wird 1918 erreicht, als die Schweiz ihren ersten Generalstreik erlebt. Drei Streikende werden in Grenchen sogar von der Armee erschossen.

Die Route de Chêne in Genf im Jahr 1915. Foto Frank Henri Jullien.

Kein Permis für Trinker

Auch auf der Strasse gibt es immer mehr Todesfälle. Innerhalb von zehn Jahren, zwischen 1904 und 1914, wächst die Zahl der Unfallopfer von 64 auf 84. Die Kantone spüren, dass die Zeit gekommen ist, die Zügel zu straffen und den «Verrückten am Steuer» Einhalt zu gebieten. Der Führerausweis wird so zum unverzichtbaren Dokument, um auf den Strassen jener Kantone fahren zu dürfen, die das Konkordat angenommen haben. Das Permis wird wie auch heute noch erst nach erfolgreichem Bestehen einer theoretischen und praktischen Prüfung ausgehändigt. Allerdings muss der Kandidat zusätzlich mit einem Führungszeugnis belegen, dass er über einen tadellosen Leumund verfügt. Ebenso muss er den Nachweis erbringen, nicht zu sehr dem Alkohol zugeneigt zu sein, da notorische Trinker nicht zur Fahrprüfung zugelassen werden.

Der Führerausweis wird jedoch nicht ein für alle Mal ausgestellt, sondern muss von Jahr zu Jahr erneuert werden. Und wem das Permis entzogen wird, der kann nicht einfach so über die Grenze in den Nachbarkanton fahren, um erneut dem Geschwindigkeitsrausch zu frönen, denn der Entzug gilt in allen Kantonen, die das Konkordat unterzeichnet haben. Die Kantone behalten jedoch die Kontrolle über den Katalog der Sanktionen, die bei weniger schweren Verstössen verhängt werden.

Landstrassen

So können Autofahrer können etwa wegen eines zu lauten Fahrzeugs bestraft werden; freie Auspuffanlagen sind nämlich untersagt. Ausserdem werden Geschwindigkeitsbeschränkungen vorgesehen, um die Bürger vor Übermut zu bewahren. Mit einem Tempolimit von 18 km/h in der Stadt und 40 km/h auf den Landstrassen ist die Gefahr eines Rausches tatsächlich minimal. Darüber hinaus ist auf stark frequentierten Strassen Langsamfahren angesagt, um «die Öffentlichkeit nicht mit herumfliegenden Exkrementen oder Staubwolken zu belästigen». Zeilen, die uns zum Schmunzeln bringen, uns aber auch daran erinnern, dass die Strassen Anfang des 20. Jahrhunderts nicht gepflastert waren und meist mit Kutschen befahren wurden.

Dieser Auszug stammt aus einem Text aus dem Jahr 1914, mit dem auch eine «Haftpflichtversicherung» für Autofahrer zwingend vorgeschrieben wird und der den Grundstein für die Reglementierung des Verkehrs legt – mit Normen, die noch heute gelten. Dennoch wird im Bundeshaus zu diesem Zeitpunkt bereits die Frage aufgeworfen, ob nicht ein Bundesgesetz anstelle eines von den Kantonen unterzeichneten Konkordats sinnvoll wäre. Bis zu einem solchen Erlass durch die Behörden in Bern sollte es allerdings noch mehrere Jahrzehnte dauern.

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